Das 'Andere' im Tanz.

Zum Körperbild des Menschen mit Behinderung und seiner Repräsentation im zeitgenössischen Tanz.

Hierbei handelt es sich um die Online-Dokumentation meiner Diplomarbeit. Thema der Arbeit ist, ausgehend von einer historisch orientierten Sichtung der Veränderung körperlicher Praktiken und Präsentationen, generelle Schlussfolgerungen über den gegenwärtigen sozialen Status des Körpers als praktisch-sinnvoller Einheit zu gewinnen, indem ich mein Augenmerk hauptsächlich auf die Darstellung des 'Anderen' richte und daraus indirekt ableite, was als 'normal' gilt. Untersucht werden soll, wie sich am Umgang mit dem Körper gesellschaftliche Strukturen und Prozesse ablesen lassen und wie diese in der Kunst als 'Material' der Inszenierung im Sinne einer 'Sichtbarmachung' aufgegriffen werden.


Warum Tanz?

Ich wählte den (zeitgenössischen) Tanz, weil ihm die Beschäftigung mit dem Körper immanent ist. Zum einen ist der Körper Instrument einer Inszenierung, zum anderen werden mit ihm 'bewegte Bilder' produziert und damit zeitspezifische Körperkonzepte reflektiert. Dabei ist die Bühne Ort der Produktion und Präsentation dieser Körperbilder und bildet so eine ideale Schnittstelle zwischen Körper und Blick. Die Bühne eignet sich als Schauplatz, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Körper geht und den Erwartungen, Motivationen oder Wertvorstellungen, die an ihn gebunden sind. Durch das öffentliche Zur-Schau-Stellen des Körpers können Ambivalenzen körperlicher Inszenierbarkeit verschärft und die Sehgewohnheiten bei der Darstellung behinderter Körper auf der Bühne herausgefordert werden.

 

Thema: "Das 'Andere' im Tanz"
Forschungsfragen: Wie lassen sich am Umgang mit dem Körper gesellschaftliche Strukturen und Prozesse ablesen und wie werden diese in der Kunst als 'Material' der Inszenierung im Sinne einer 'Sichtbarmachung' aufgegriffen?
Methode: Theoretischer Teil: explorative Untersuchung. Praktischer Teil:Aufführungsanalyse in Anlehnung an Panofskys (1975) Interpretationsverfahren der Ikonographie und Ikonologie
Institut: Humboldt-Universität zu Berlin, IfS, Abt. Sportpädagogik & Sportsoziologie
Betreuung: Prof. Dr. Elk Franke & Prof. Dr. Eugen König
Zeitrahmen: September 2005 - Februar 2006

Leitgedanken

Form und Deformation

Die tänzerische Arbeit mit versehrten Körpern hinterfragt nicht nur die normativen Körperbilder des klassischen und des modernen Tanzes, sondern auch den gesellschaftlichen Stellenwert des Körpers, mit dem Ziel, durch die Störung herkömmlicher Wahrnehmungsmuster dem Körper eine gesteigerte Sinnlichkeit zu entlocken. Denn das grundlegende Thema des Tanzes, das Verhältnis von Form und Deformation, zeigt sich bei einem deformierten Körper noch deutlicher und ist noch sichtbarer als bei einem vollkommenen Tänzerkörper.

Aktuell eröffnet die Gesellschaft vielschichtige Möglichkeiten, versehrte Körper wahrzunehmen, wobei bioethische oder medizinische Diskussionen Vorstellungen von einem perfekten Menschen mit einem makellos funktionierenden Körper zugleich implizieren. Die aktuelle Körperwahrnehmung ist daher geprägt von kosmetischen, medizinischen oder technischen Veränderungsmöglichkeiten, gleichzeitig jedoch ist sie dem absoluten Versagen dieser Möglichkeiten ausgesetzt. Denn in den entscheidenden Momenten kann man nicht gegen den eigenen Körper verfügen. Dies wird sichtbar, wenn Menschen mit Bildern 'anderer' Körper, mit Krankheit oder Tod konfrontiert werden. Weil der Kontakt mit 'andersartigen' Menschen oftmals nicht unmittelbar stattfindet, sondern das Wissen über sie mittelbar übertragen wird, ist der Umgang mit ihnen häufig durch große Unsicherheiten geprägt und von dem Glauben, dass der Umgang mit ihnen ein anderer sein müsste. Allein ihre Stigmatisierung, 'anders' zu sein und nicht der Norm zu entsprechen, reicht aus, um sie in bestimmte Kategorien ein- und aus anderen auszuschließen.


Öffentliche Körper

Die Herausforderung ist nun, gängige Annahmen über Behinderung in Frage zu stellen und die Erwartungen beim Betrachten 'anderer' Körper zu hinterfragen. Denn gerade die (Theater-)Bühne ist ein Ort, in der Aufmerksamkeit fokussiert und gerahmt wird. Die Darstellung 'anderer' Körper auf der Bühne geht mit einer Herausforderung der Wahrnehmung dieser Körper einher. Man könnte sagen, dass der Blick auf einen versehrten Körper ein anderer ist. Die Stigmatisierung des nicht perfekten Körpers überdeckt die Ungezwungenheit des (Zu-)Sehens. Peinlichkeit oder Scham sind affektive Reaktionen darauf, wenn etwas gesehen wird, was eigentlich verborgen sein sollte. Sobald das von Konvention diktierte Verbergungsgebot im Raum steht, wird die Stelle der Deformation, wird die Diskrepanz sichtbar und diese Sichtbarkeit lässt die Unbeschwertheit des Betrachtens unter dem Deckmantel der Moral verschwinden. Stattdessen verfällt der Blick oft ins Mitleid und schliesslich ist es gerade dieser Blick, durch den Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen diskriminiert werden.

Figuren des 'Anderen' auf der Theater-Bühne zu zeigen, ist jedoch etwas anderes, als das Sichtbarmachen eines solchen Körpers auf der Bühne des Alltags. Der Körper auf der künstlichen Bühne ist geschützt, er spielt mit der Nähe und Distanz zum Publikum, mit der Form und ihrer Dekonstruktion, bleibt aber unantastbar. Auf der Alltagsbühne jedoch ist dieser Körper in seiner physischen Unantastbarkeit nicht mehr nur imaginär gefährdet und wird daher, sofern es möglich ist, oft kaschiert. Versehrte Körper werden inszeniert, sie verstecken oder zeigen etwas, werden als "Public Bodies" angeschaut und wahrgenommen. Ein schöner, funktionstüchtiger Körper dagegen überzeugt, durch ihn gelingt die richtige soziale Positionierung, denn "nirgends vollzieht sich soziale Distinktion effektiver als über den Körper." (Klein 2000b) Körper jedoch, die nicht der Norm entsprechen, entfachen nicht nur medizinische, pädagogische oder bioethische, sondern auch ästhetische Debatten.


Körper on stage

Ob nun aber auf der Alltags- oder Tanzbühne: Inszenierungen des Körpers verändern sich und stehen im Zusammenhang ästhetischer und damit auch gesellschaftlicher Entwicklungen. Zeitgenössischer Tanz kann jedoch, im Gegensatz zum romantischen Ballett bspw., Themen wie körperliche Versehrtheit und Behinderung als einen Unterschied zum unversehrten Körper herausstellen, ohne diesen aber als Defizit oder Mangel zu betrachten und ohne den 'anderen' Körper damit abzuwerten.

Denn es stellt sich schon die Frage, ob Stücke von Menschen mit Behinderung nicht auch als Kuriositäten, sozusagen als analytische, quasi medizinische Zurschaustellung zu sehen sind. Auch wenn Zuschauer im Allgemeinen dem Thema aufgeschlossen gegen über stehen, generell erscheint mit der Darstellung von Behinderung durch Menschen mit Behinderung das Problem des Einbruchs der Realität in das Theater, das die Idee des perfektionierten 'als-ob' in Frage stellt. Für gewöhnlich versteht man Tanz als eine künstlerische Form, körperliche Bewegungen in immer perfekten und technisch ausgereiften Gestaltungsmitteln zu übersetzen und zu inszenieren. Es gibt Tanzformen, die innerhalb ihrer eigenen Logik eines klar definierten Bezugssystems funktionieren. Es ist aber ein neuer Umstand, wenn dieses System übergangen wird und sich die Grenze über eine körperliche Beeinträchtigung definiert, wobei diese Grenze in der Wahl der ästhetischen Mittel oder in der physischen Einschränkung liegt.


Möglichkeiten der Repräsentation 'anderer' Körper

Wie sollen also Menschen mit Behinderungen Figuren darstellen, die nicht automatisch auch Züge einer Behinderung beinhalten? Dem theatralen Gesetz der Verkörperung, das "als ein zweibahniger Vorgang zu verstehen (ist): sowohl als Inkorporierung wie auch im Sinne einer Darstellung und Veräußerlichung des Inkorporierten für sich und andere" (Alkemeyer 2004), kann dadurch nachgekommen werden, dass Behinderung nicht gedoppelt vorgeführt, sondern "als Sichtbarmachung eines Subtextes verstanden wird." (Radtke 1997) Dabei sollte die Darstellung über das bloße Aufgreifen politischer Inhalte hinausgehen, denn der zeitgenössische Tanz und auch das Theater sind nicht mehr nur Institutionen der moralischen Einflussnahme. Vielmehr liegt die Aufgabe solcher Stücke wohl eher darin, einen Schauplatz für Wahrnehmungstraining zu bieten, das Nicht-Repräsentierbare geschehen zu lassen. Bei der Darstellung von Behinderung in der Kunst und vor allem im Tanz geht es also um die Herausforderung althergebrachter Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsmuster. Die physische Präsentation 'anderer' Körper auf der Bühne bildet die Schnittstelle zwischen Körper und Blick, dort treffen der kulturell kodierte Blick und der symbolisch stigmatisierte Körper aufeinander. Die Bühne bietet die Möglichkeit einer verdichteten Wahrnehmung und einer erfahrungsorientierten ästhetischen Reflexion, wodurch die Wahrnehmung 'anderer' Körperbewegungen auch einen unmittelbaren Kommunikationsprozess bewirken kann, der neue Modelle sozialer Interaktion und ästhetischer Wahrnehmung hervorbringt. Denn es stellt sich die Frage, wie überhaupt über andere Körper geredet werden kann, will man nicht glorifizieren oder sentimentalisieren.

Ausgehend von den Überlegungen der Anthropologin Douglas (1974), dass der Körper ein gesellschaftliches Konstrukt sei, können historisch sich wandelnde Vorstellungen vom Körper und seiner jeweiligen Darstellung erklärt werden. In Anlehnung an Douglas' Körpertheorie kann man auch hier von zwei Körpern sprechen, die auf der Bühne präsentiert werden. Zum einen zeigt sich im Tanz der physisch-individuelle und gesellschaftlich kodierte Körper, zum anderen unterliegt der Körper des Tänzers der Bewegungschoreographie. Tanzkörper sind danach gekennzeichnet durch "eine doppelte Artifizierung des Körpers, die prozessual ineinander greift." (Huschka 2002) Daran anknüpfend lassen sich Körpertheorien auch im Tanz lokalisieren, denn es zeigt sich nicht nur der unveränderbare Leib, sondern auch der Körper als kulturelles Konstrukt mit seinen subversiven Praktiken. In diesem Zusammenhang greife ich auf den Begriff 'Körperbilder' zurück, wie ihn Brandstetter (1995) versteht, nämlich "als vermittelnde symbolische Konstrukte zwischen szenischem Ereignis und Text", mit dessen Hilfe das im Tanz Dargestellte sprachlich wiedergegeben werden kann. Da Theater ein Ort ist, in dem 'bewegte Bilder' produziert und präsentiert werden, kann die Darstellung von Körperbildern als Produkt der spezifischen Inszenierungen des Körpers auf der Bühne gesehen werden, die zeitspezifische Körperkonzepte reflektieren.

Kamper (2001) stellt fest:

"Erst heute ist das Verhältnis von Verbalsprache und Nonverbalem und das bewusste Ausstellen der Ambivalenz von Im/Perfektion als sogar konstitutiv für den Tanz anerkannt worden. Seine Revolte beruhte auf der Betonung der Selbstreferenzialität des Tanzes. Der Tanz als eigene Sprache, eigene Kultur, mit einem eigenen Bewegungskodex konnte so auch - trotz eines normativen Diktats von Schönheit und Eleganz - körperlich beeinträchtigte Menschen konsequent in seine Reihen aufnehmen" (Kamper 2001)